Karl Bauer – mein Vater und das Vermächtnis an seine Kinder
Mein Vater war ein Mann, der die Welt in langen Linien betrachtete. Er forderte uns auf, „über die Zeit hinaus zu denken“, Zusammenhänge zu erkennen und sich nicht mit bloßer Oberfläche zu begnügen. Dies sei, sagte er oft, kein nutzloses Philosophieren, sondern das, was er aus Goethes Faust als „strebend sich bemühen“ verstand: die Voraussetzung für innere Vollendung.
Geboren in der Monarchie, erlebte er die Verlautbarung der Kriegserklärung zum Ersten Weltkrieg als Kind auf den Schultern seines Vaters vor der Landesregierung in Klagenfurt.
Aufgewachsen in den Wirren dieses Krieges mit seinen Nöten auch für das Hinterland ging er 1925 trotz schwieriger finanzieller Umstände von Kärnten an die Kunstakademie in Wien. Nach seinem Abschluss und einer abgelegten Lehramtsprüfung geriet er in die Katastrophe der Weltwirtschaftskrise. Eine Existenz als Künstler war kaum möglich. Dank seiner pädagogischen Ausbildung erhielt er eine Anstellung als Lehrer in Wien, jedoch ohne feste Absicherung. Auch ein kleines Atelier konnte unterhalten werden. In den Wirren des Jahres 1935 wurde sein Vertrag als Lehrer nicht verlängert. Er kehrte zurück nach Kärnten und versuchte, seinen Unterhalt mit Gebrauchsgrafik zu sichern.
Sein Leben war von Brüchen und Umbrüchen geprägt, von historischen Zwängen, die ihm oft Entscheidungen abverlangten, die nicht aus Überzeugung, sondern aus Notwendigkeit getroffen wurden. Sein Kontakt mit dem Nationalsozialismus nach dem Abbau als Lehrer 1935 und sein Beitritt zur NSDAP 1938 waren solche Entscheidungen – keine aus Gesinnung oder Fanatismus, sondern getrieben von wirtschaftlicher Not nach dem Verlust des Arbeitsplatzes.
In seinen Aufzeichnungen schrieb er: „Auf der Straße traf man oft junge Männer, behängt mit einem Plakat: ‚Akademiker – übernehme jede Arbeit!’“.
Diese Jahre waren ein Kampf ums Dasein. Von Kärnten führte ihn sein Weg in der Folge nach München, wo er versuchte, sich eine Existenz als Zeitungsillustrator für Kurzgeschichten und geschichtliche Fortsetzungsserien aufzubauen. Mit der 1938 erfolgten Heirat der aus Wien stammenden Leopoldine trat auch der Wille hervor, eine Familie zu gründen und zu erhalten und nach Wien zurückzukehren. Ohne Parteizugehörigkeit gab es keine sicheren Arbeitsplätze. Die Wiedereinstellung als Lehrer – nun in Klosterneuburg – befreite ihn von der wirtschaftlichen Unsicherheit.
Mit Betroffenheit erlebte er als Lehrer den Beginn des Zweiten Weltkrieges. Zu dieser Zeit arbeitete er neben der Lehrtätigkeit mit großer Konsequenz an künstlerischen Fragestellungen, konzentrierte sich auf die Themen Form und Farbe. Für die Form erwies sich der Kupferstich als ideales Medium; farblich bevorzugte er die Pastellmalerei, da sie größere Formate, schichtweisen Aufbau und flexible Korrekturen ermöglichte. In dieser produktiven Phase entstanden rund zehn Kupferstiche sowie mehrere Pastelle.
Zu den zuvor genannten Umbrüchen in seinem Leben zählten auch der Tod seiner Mutter 1941 und die Geburt meiner Schwester Rotraud im selben Jahr. 1942 wurde er als einfacher Soldat zum Kriegsdienst eingezogen. Von 1943 bis 1946 war er Kriegsgefangener – zunächst in Afrika, dann in den USA. Erst dort, in der Gefangenschaft, erfuhr er das Ausmaß der Verbrechen des NS-Regimes. Diese Erkenntnis erschütterte ihn zutiefst. Obwohl sich sein künstlerisches Schaffen niemals dem Regime anbiederte, reflektierte er in späteren Schriften und Gesprächen seine damalige Parteizugehörigkeit kritisch. Es war keine Selbstrechtfertigung, sondern eine stille Auseinandersetzung mit Verantwortung, Schuld und den Grenzen menschlichen Handelns in Zeiten der Diktatur.
Seine spätere Hinwendung zu Philosophie und Religion war auch ein Versuch, neben der Kunst Antworten auf diese Fragen zu finden – nicht für die Welt, sondern für sich selbst. Nach all diesen Erfahrungen wollte er nach dem Krieg keine Anstellung mehr, die ihn erneut in ein starres System einband und ihn womöglich von geistiger Freiheit abhielt. Er wollte kein Staatsangestellter mehr sein, sondern jemand, der sich selbst verpflichtet war – seinem Denken, seiner Kunst, seiner Suche nach dem, was bleibt, wenn Systeme und Ideologien vergehen.
1955, mitten in diesem existenziellen Neustart nach dem Krieg, wurde ich geboren, da war er bereits 50 Jahre alt. Seine Suche nach dem, was bleibt, zeigt sich auch in dem, was er meiner Schwester und mir schriftlich hinterlassen hat. Er wusste, dass wir nicht all die Bücher lesen würden, die ihn beschäftigt hatten, aber er wollte, dass wir ihre Essenz erfassen. Selbst an der Schreibmaschine sitzend, verfertigte er Auszüge aus den Büchern. „Diese Auszüge wurden in voller Absicht für euch angefertigt“, schrieb er. „Ich sagte mir, all diese Bücher brauchen meine Kinder nicht mehr zu lesen – vielleicht aber sind die Auszüge eine Anregung für mehr!“
Unter den ausgewählten Werken fanden sich Fritz Schachermeyr: Die Tragik der Vollendung, Paul Davies: Gott und die moderne Physik, Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes, Arnold J. Toynbee: A Study of History, Arthur Schopenhauer: Aphorismen zur Lebensweisheit, Viktor E. Frankl: Das Leiden am sinnlosen Leben.
Diese Bücher dienten ihm als Impulse, um Denkansätze kritisch zu hinterfragen und in Beziehung zu setzen. Sie spiegeln ein historisches Bewusstsein wider, vielleicht auch die Erkenntnis, dass Kulturen zyklisch aufblühen und vergehen, dass nichts, was wir für selbstverständlich halten, von Dauer ist, dass die Welt aus Kreisläufen besteht und jeder Mensch in diesen Kreisläufen seinen Platz finden muss. Doch sein Vermächtnis reicht über das Historische hinaus. Der Krieg und die Jahre danach führten ihn zu einer vertieften geistigen Entwicklung. „Eine Wende hin zum Religiösen trat bei mir erst mit dem Krieg ein“, schrieb er. Er behauptete nicht, Antworten gefunden zu haben, aber er erkannte: „dass das, womit wir uns geistig beschäftigen, nicht belanglos ist. Dass es am Ende nicht der Erfolg, nicht das Ansehen oder das Vermögen ist, das ein Leben als erfüllt erscheinen lässt, sondern jene scheinbaren Nebensächlichkeiten, die uns oft unbewusst begleiten und sich dann als entscheidend erweisen.“
„Die Arbeit soll gut getan werden – sie soll ihre Schönheit behalten und auch Befriedigung hinterlassen“, sagte er oft. „Und doch: Diese Unmessbarkeiten, die so unbeachtet nebenher geschehen, scheinbar nutzlos geschehen, sie hinterlassen eine tiefe Spur, uns unbewusst, in unserem Leben. Und zu irgendeinem Moment sind sie dann da, werden entscheiden, ob sich dieses Leben als gut gelebt herausstellt.“ Er glaubte nicht an einen strafenden Gott, „und für diesen Glauben“ so schrieb er uns, „müssen wir dankbar sein, er gibt uns die Hoffnung, ohne die es kein Leben gibt.“ Was ihn leitete, war die Gewissheit, dass über allem die Liebe steht. „Dass über allem die Liebe steht, als die höchste dieser drei, hat für mich immer zu den schönsten Erkenntnissen gezählt. In ihren Armen erst fühlen wir uns geborgen, wie der ‚verlorene Sohn‘ in der Umarmung des liebenden Vaters, als den wir Gott und Jesus, seinen Sohn, empfinden.“ [siehe Bild vom verlorenen Sohn] Mein Vater war kein einfacher Mensch, aber er war ein leidenschaftlich Suchender. Er suchte in der Malerei, er suchte in der Philosophie und er suchte im Glauben. Und das ist es, was er uns mitgeben wollte: die Fähigkeit, über die Zeit hinauszudenken, die Kraft, den eigenen Weg zu suchen, und die Einsicht, dass am Ende nicht die großen Errungenschaften zählen, sondern das, was unser Leben im Innersten geprägt hat. Sein Leben, seine Auszüge, seine Gedanken, seine Briefe – sie sind keine Antworten, sondern Anregungen für mehr. Neben seinem Werk sind diese Anregungen sein Vermächtnis für uns.
Herbert Bauer
14. Februar 2025